Sie ist zu ihrer Cousine gefahren. Für zwei Wochen. Das wollte er ausnutzen.

Nein! Nicht dazu. Nein, er dachte an andere Dinge. Er konnte sich endlich ungestört seiner Gewinde- und Schraubensammlung widmen. Er würde sich in der ganzen Wohnung ausbreiten, sie aus den Setzkästen, Kisten und Schachteln nehmen, und tagelang dort, wo er sie eben ausgepackt hatte, liegen lassen. Er würde sie ansehen, umsortieren und wieder ansehen. Neben den Aufbewahrungsbehältnissen würde er seine Fachbücher, Kataloge und aus dem Internet ausgedruckten Listen einfach aufgeschlagen liegen lassen.

Herrlich! Und keine Kritik deswegen war zu erwarten. Auch kein Verlustrisiko durch zwanghaftes Aufräumen von jemandem, der die Schrauben des Einspritzventils einer Spitfire nicht von einer 08/15-Schraube aus dem Baumarkt unterscheiden konnte.

Und dann konnte er auch diesen Akten- und Unterlagenwust, der sich seit Jahren im Schrank und im unteren Teil der Wohnzimmervitrine angehäuft hatte, aussortieren.

Und zu all dem würde er Musik hören. Nicht nur CDs, auch den Schallplattenspieler würde er wieder aufstellen und an den Verstärker anschließen. Richtige Schallplatten!

Seine Augen leuchteten. Und er freute sich schon darauf, endlich mal wieder die Aufnahme von Hermann Prey von Loewes Ballade Herr Heinrich saß am Vogelherd, die er nur auf Vinyl besaß, zu hören.

Wobei es eigentlich weniger der Gesang war, der es ihm bei dieser Aufnahme angetan hatte. Der war ihm fast etwas zu manieriert.

Aber der Flügel! Wie der sich aus der Ferne anpirschte, dann gewaltig anschwoll, zum euphorischen Fanal wurde Der Staub wallt auf! Der Hufschlag dröhnt! um sich schließlich mit schnaubenden Tasten vor dem neu gewählten Kaiser zu verneigen. Das würde für Gott eine gute Zeit!

Und dann würde er schließlich noch Ordnung reinbringen in dieses stetig größer werdende Meer von Ahornbäumchen im Garten. Wie sich das schon anhörte: Meer von Ahornbäumchen. Tatsächlich verstehen kann man das ohne entsprechende Erklärungen wohl nicht.

Also: Sie hatten einen Garten. Der bestand bis vor einigen Jahren, abgesehen vom Rasen natürlich, nur aus Blumen, die in säuberlich gefassten Beeten wuchsen. Und aus einigen wenigen Bäumen, die als Sichtschutz alle direkt an der Grundstücksgrenze wuchsen. Auf dem Rasen selbst gab es, außer Gras und gelegentlichen Löwenzähnen, die, sobald sie entdeckt wurden, hartnäckig bekämpft wurden, nur eines: nämlich nichts. Und so sollte es nach beider Wunsch auch sein. Überhaupt wurde der Rasen gehegt und gepflegt. Regelmäßig wurde er gemäht. Und was der Rasenmäher an den Rändern nicht erfasste, dafür wurde die Schere genommen. Zeigten sich in der Grasfläche noch so kleine Lücken, wurde dort neu gesät. Aber nur von diesem ganz speziellen Samen für diese ganz spezielle Sorte.

Und schien einmal auch nur einen Tag die Sonne intensiver, wurde der Rasensprenger hervorgeholt, der dann mit gleichmäßigen Bewegungen im monotonen Rhythmus das Wasser verteilte. Der Rasen war heilig, so dass noch nicht einmal ein Liegestuhl auf ihm zu stehen kam.

Mit dem Rasen im Garten war also alles genauso gewesen wie bei hunderttausenden anderen Menschen in diesem Land. Irgendwann aber kamen sie, diese Ahornbäumchen. Zuerst waren es drei Stück an der Zahl. Nur drei Stück würde er heute sagen. Gebracht hat sie damals ein Paketdienst. Jedes dieser Bäumchen war in einer imposant großen und aufwendig aufgemachten Kartonverpackung verpackt. Sie kamen an einem Samstagmorgen. Deshalb war er zu Hause als der Transporter vorfuhr und konnte vom Wohnzimmer aus durch das große Panoramafenster zusehen, wie sie aufgeregt zum Gartentor lief, um die Bäumchen entgegenzunehmen.

Offensichtlich war sie der Meinung, der Fahrer würde die Pflänzchen nicht mit der entsprechenden Sorgfalt behandeln. Das schloss er daraus, dass sie, nachdem dieser das erste Paket ausgeladen und auf den Gehweg gestellt hatte, sich zwischen ihm und dem Wagen drängte und die beiden anderen Verpackungen selbst aus dem Fahrzeug hob. Wobei sie sehr behutsam - ja man konnte es fast ehrfurchtsvoll nennen - zu Werke ging. Obwohl sie also die meiste Arbeit selbst getan hatte, fiel - nach dessen Gestik zu schließen - das Trinkgeld, das sie dem Fahrer gab, nicht knickerig aus.

Es war unübersehbar: Diese Bäumchen waren ihr wichtig.

Mehr noch: sie veranstaltete - wie so oft - einen übertriebenen und überflüssigen Zirkus um sie herum. Und wie weihevoll sie dann erst an die Auswahl des genauen Standortes und das Einpflanzen ging ... Wann genau kam sie eigentlich mit diesen Bäumchen an?

Ja richtig. Kurz nach dem Tod ihres Vaters. In der Zeit hatte er ihr vieles durchgehen lassen. Auch dass sie auf einmal Dinge tat, ohne ihn zu fragen, über die sie vorher gemeinsam gesprochen hätten. Wie die Frage, ob man denn im Garten wirklich Ahornbäume pflanzen sollte.

Aber das entschied sie damals alleine. Und machte einen riesen Aufwand damit. Es waren natürlich keine Bäumchen aus dem Gartenmarkt, sondern irgendetwas Spezielles.

Sie hatte Briefe bekommen deswegen, die Umschläge aus edlem Papier und mit den Adressen einer wichtig klingenden Institution. Sie hatte wohl auch welche geschrieben. Aber das hatte er nicht mitbekommen, da man nur ankommende Briefe im eigenen Briefkasten findet. Ihr war das alles offensichtlich sehr wichtig. Er ließ sie gewähren. Hatte vermutlich wieder mit ihrem Esoteriktick zu tun.

Was sollte er machen? Schließlich hatte sie ihren Vater verloren, da durfte er nicht so kleinlich sein. Ein Tod im Übrigen, durch den seine ständigen Konflikte mit dem Schwiegervater, den er alles andere als mochte, ein jähes Ende fanden. Und einer, der es ihnen beiden, die sie bis dahin finanziell gerade so über die Runden kamen, ermöglichte, nicht nur schlagartig das neu gebaute, geräumige Haus zu bezahlen, sondern der ihnen auch sonst eine bisher nie gekannte finanzielle Freiheit erlaubte.

Er überlegte, in welcher Reihenfolge er sich an seine selbst gestellten Aufgaben machen wollte. Zuallererst entschied er sich, dass er sich seinem Hobby, obwohl er gerade mit dem am liebsten angefangen hätte, erst widmen würde, wenn er die anderen Dinge erledigt hatte. Was wiederum diese anging, so wollte er das Wetter entscheiden lassen. Wenn es morgen regnete, so würde er zuerst seine Ordnungsaktion im Haus starten. Wäre es schön, dann würde er zuerst im Garten anfangen.